T. Kästli: Selbstbezogenheit und Offenheit

Cover
Titel
Selbstbezogenheit und Offenheit – Die Schweiz in der Welt des 20. Jahrhunderts. Zur politischen Geschichte eines neutralen Kleinstaats


Autor(en)
Kästli, Tobias
Erschienen
Zürich 2005: Neue Zürcher Zeitung - Buchverlag
Anzahl Seiten
579 S
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Georg Kreis

Tobias Kästli: Selbstbezogenheit und Offenheit – Die Schweiz in der Welt des 20. Jahrhunderts. Zur politischen Geschichte eines neutralen Kleinstaats. Zürich, NZZ-Verlag, 2005. 579 S.

Tobias Kästli präsentiert nach seiner Geschichte des schweizerischen Nationalstaates (1998) in bewährter Art eine Gesamtschau dieses Staates in seinen Aussenbeziehungen. Er integriert in diesen Überblick zahlreiche Teilgeschichten und stellt zugleich eine grosse Leitfrage ins Zentrum. Die Leitfrage geht von einer These aus, die Herbert Lüthy 1964 entwickelt hat und die beiden Nachkriegszeiten, diejenige nach 1918 und diejenige nach 1945, mit einander vergleicht. Lüthy ging es darum, dass sein Land die in der Aufbruchzeit der 1960er Jahre immer unerträglicher erscheinende Eindimensionalität, Phantasielosigkeit und Selbstbe zogenheit der zweiten Nachkriegszeit überwinde; mit einer Würdigung der ersten international stärker engagierten und offeneren Nachkriegszeit wollte er zeigen, dass es eine offenere Haltung in der Schweizergeschichte schon einmal gegeben habe.

Diese These bildet den Interpretationsrahmen und zugleich das Gerüst für die Rekapitulation der mehr oder weniger bekannten Teilgeschichten, von der helvetistischen Kulturpolitik vor 1914, über die Versorgungsproblematik während des Ersten Weltkriegs, zu den auch nach 1918 anhaltenden Unterschieden zwischen Deutsch und Welsch, zur Kriseninitiative und zum Friedensabkommen von 1937, zum Ausbau des Wohlfahrtsstaats nach 1945 oder zur plötzlichen Aufdeckung des Schnüffelstaats etc. Dies scheinen nicht primär aussenpolitische Themen zu sein. Bei genauerem Hinsehen kann man mindestens erkennen, dass auch sie das Aussenverhältnis der Schweiz betreffen und von diesem mitgeprägt worden sind. Deutlich wird dies bei einem vom Autor speziell beachteten «innenpolitischen» Problem: dem über lange Zeit verweigerten Frauenstimmrecht. Diese Forderung kam 1918 zwar auf die politische Agenda, seit 1920 auch auf kantonale Abstimmungskalender, sie wurde aber immer wieder auf die lange Bank geschoben. Die Interdependenz von Aussen und Innen konnte man bereits 1945 in dieser Frage wahrnehmen, als sich der Bund Schweizerischer Frauenorganisationen für den UNO-Beitritt stark machte, weil dies seine Position gestärkt hätte. Als in den 1960er Jahren zunächst die Europaratsmitgliedschaft und dann der Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) diskutiert wurde, nutzten die Frauen diese Geschäfte, um ihrer Forderung mehr Nachachtung zu verschaffen. Innen- und aussenpolitische Reformen gehen öfters Hand in Hand, als man denkt.

Das Buch referiert selbstverständlich auch die aussenpolitischen Klassiker wie den Abstimmungskampf um den Völkerbundsbeitritt 1920, die Rückkehr zur uneingeschränkten Neutralität 1938, die Normalisierung der Beziehungen zur Sowjetunion 1946, die Korea-Mission nach 1953, die Ablehnung des UNO-Beitritts 1986 u.a.m. Die Haltung in der zweiten Nachkriegszeit wird gestützt auf Lüthy als «nüchterner Pragmatismus», ja von «grämlicher Nüchternheit» geleitet umschrieben. An anderer Stelle spricht er von der «ein wenig mürrischen und jedenfalls vorsichtigen Nüchternheit», dies als Folge der in der Zwischenkriegszeit und Kriegszeit erfahrenen Enttäuschung. Der Autor macht keinen Hehl daraus, dass er selber für eine offene Grundhaltung und für den Abbau «selbstbezogener Offenheit » eintritt. Die zentrale Frage ist demnach, inwiefern und weshalb die Offenheit inzwischen etwas ausgebaut werden konnte. Kästli bringt es nicht ganz auf diesen Punkt, er gibt aber trotzdem den Hinweis, dass es der Aufbruch der 1960er Jahre war, der die Widersprüche zwischen der starken Selbstbezogenheit und der nicht weniger starken Weltverbundenheit an die Oberfläche brachte und zum Gegenstand offener Auseinandersetzung machte. Die Bruchlinien der Positionen seien dabei durch alle Parteien hindurchgegangen. Was aber als Gegenstück zur «einseitigen Selbstbezüglichkeit» entstand, war nicht überbordender Idealismus, sondern bloss eine andere Art von Nüchternheit, die sich, wie der Autor abschliessend bemerkt, der schlichten Einsicht nicht mehr verschliesst, dass die Schweiz ihre Probleme nicht alleine und nicht mehr vorwiegend innenpolitisch lösen kann und dass ein Kleinstaat eine verbindlich geregelte internationale Ordnung nicht als Bedrohung, sondern Schutz verstehen soll.

Es liegt in der Natur einer derartigen Synthese, dass sie mehrheitlich Sekundärliteratur verarbeitet. Man kann in der Vielfalt der referierten Materialien aber auch Primärbeiträge entdecken: etwa eine Rede von Heinrich Rothmund von 1924 zum Thema Überfremdung, in der sich der Fremdenpolizeichef noch zu diesem Zeitpunkt für eine Erleichterung für die freiwillige Einbürgerung nach langjähriger Niederlassung und für Zwangseinbürgerung bei in der Schweiz Geborenen aussprach (S. 176). Der Autor führt entsprechend dem im Untertitel angezeigten Interesse an zahlreiche wichtige Äusserungen heran, welche den zeitgenössischen Auseinandersetzungen mit zentralen Fragen entnommen sind, etwa dem zu wenig bekannten Aufsatz vom wieder zu entdeckenden nachmaligen Zürcher Philosophieprofessor Hans Barth «Über die Entstehung der Ideologie vom totalen Staat» (1938).

Zitierweise:
Georg Kreis: Rezension zu: Tobias Kästli: Selbstbezogenheit und Offenheit – Die Schweiz in der Welt des 20. Jahrhunderts. Zur politischen Geschichte eines neutralen Kleinstaats. Zürich, NZZ-Verlag, 2005. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 1, 2006, S. 112-114.

Redaktion
Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 56 Nr. 1, 2006, S. 112-114.

Weitere Informationen
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit